5. HEILIG ABEND

An Heilig Abend hatte ich von 15-23 Uhr Dienst. Das war für mich eigentlich gar nicht so schlecht, weil so konnte ich am Vormittag mit Mama und Papa telefonieren, bei denen es 7 Stunden später war und die schon gemütlich beim Abendessen saßen. So konnte ich frohe Weihnachten wünschen und ein bisschen Ruhe vor dem Dienst genießen.

 

In den Tagen zuvor war es sehr stressig gewesen, weil wir voll ausgelastet waren und über 1200 Gäste im Haus hatten. Da es der Weihnachtsurlaub ist, merkt man dann auch, dass die Ansprüche und Wünsche der Gäste steigen und so machte ich mich auf einigen Trubel an Heilig Abend gefasst. Überraschenderweise verlief der Dienst dann weitaus ruhiger als erwartet.

 

Schon in den vorigen Tagen, an Heilig Abend aber ganz besonders, konnte man deutlich zwei Gästegruppen erkennen.

 

Da waren zum einen die Familien und Paare, die über Weihnachten in den Urlaub gefahren sind, um sich etwas ganz Besonderes zu gönnen und denen viel an den Feiertagen lag und die bemüht waren, trotz des Urlaubs, die ein oder andere Tradition zu wahren. Diese Gäste waren ruhig und ausgeglichen, machten sich über die ganzen Feiertage richtig hübsch, wenn sie zum Essen gingen, besuchten Gottesdienste und genossen ein paar erholsame Tage.

 

Und dann waren da die anderen Gäste, ebenfalls Familien, Paare und Singles, die über Weihnachten von zu Hause abgehauen sind, die sich in den Urlaub flüchteten, um dem Trubel zu Hause zu entfliehen, aber auch, um Weihnachten zu verdrängen. Es war bemerkenswert wie viel mehr Betrunkene wir über die Feiertage hatten und wie viel öfter wir die Security rufen mussten, um Streitereien und Auseinandersetzungen zu schlichten. Es ist traurig wie viele Menschen Weihnachten im Alkohol ertrinken, weil sie die Feiertage und den Jahreswechsel nicht anders ertragen und niemanden haben, der mit ihnen diese Tage feiern würde.

 

Das Hotel hatte ein wirklich reizendes Programm für die Familien vorbereitet und so gab es für die Kleinen schon am Nachmittag Geschenke am Pool, ein Krippenspiel und Piñatas. Am Abend gab es in unseren 4 Restaurants ein einheitliches Weihnachtsbuffet, für welches sich unsere Köche wirklich ins Zeug gelegt hatten. Es war sowohl für unsere Gäste als auch für die Gäste von unserem neuen Hotel geplant, d.h. die Köche haben für gut 1600 Gäste an diesem Abend gekocht. Meine Kollegin, mit der ich mir den Dienst teilte, und ich durften gemeinsam zum Essen gehen, derweil unsere Chefin die Stellung hielt. Das war sehr nett, so mussten wir an Heilig Abend nicht alleine essen, sondern konnten gemeinsam schlemmen und tratschen. Das hatte dann fast ein bisschen was Weihnachtliches.

 

Um halb Neun am Abend kam Santa Claus und für die Urlaubskinder aus den USA und Kanada war das wirklich das allergrößte. Jedes Kind erhielt ein Päckchen und durfte auf seinen Schoß sitzen und ein Foto machen. Ich habe selten so viele strahlende Gesichter und leuchtende Kinderaugen gesehen. Es war einfach rührend, denn die Kleinsten glaubten wirklich so fest, dass es Santa sei, dass sie vor Freude und Aufregung fast platzten. Es war schön zu sehen wie viele Familien auf wirklich goldige Art und Weise mit ihren Kindern umgingen und mit ihnen einen wunderschönen Heilig Abend im Urlaub verbrachten.

 

Doch leider waren da auch die anderen, diejenigen, die schon seit mittags betrunken waren und die mit Weihnachten so überhaupt nichts anfangen konnten. Einige brachten wir auf ihre Zimmer, wo sie bis zum nächsten Tag ihren Rausch ausschliefen.

 

Eine Familie, die in unserem neuen Hotel wohnte, aber täglich bei uns war, fiel uns schon seit Tagen auf. Sie kamen normalerweise früh morgens und schickten ihre beiden Söhne, 7 und 11 Jahre alt, zu unseren Mädels in den Kids Club. Viele Eltern geben ihre Kinder dort ein paar Stunden ab, um ein bisschen Zeit für sich zu haben und nicht zuletzt, weil die Kinder den Kids Club tatsächlich lieben. Diese Familie gab ihre Kinder aber seit Tagen von morgens bis abends ab und kümmerte sich kein bisschen darum, ob es den beiden gefiel oder nicht. Hauptsache sie mussten sich nicht um sie kümmern. Täglich gab es Streitereien zwischen den Eltern und wir mussten mehrmals die Security rufen. Die Mutter war eigentlich konstant betrunken und auch der Vater schien stets alkoholisiert, wenngleich er deutlich mehr bei Bewusstsein war als die Mutter. Wir hatten also schon seit Tagen einen Blick auf die Familie geworfen und auch unsere Kollegen im Residences wussten, dass sie diese im Auge behalten mussten. Schon zweimal war die Mutter unter Alkoholeinfluss handgreiflich geworden und in Tränen ausgebrochen.

 

Am Nachmittag nahm ich bereits wahr, dass beide Elternteile betrunken waren und sich kein bisschen ihrer Kinder annahmen. Nach Neun Uhr eskalierte dann alles in der Lobby und die beiden brachen erneut in einem Streit aus, wobei die beiden Kleinen hilflos daneben standen. Es bricht einem wirklich das Herz, wenn man sieht, was die beiden in ihrer Kindheit erleben müssen. Die Mutter brach wieder in Tränen aus und gemeinsam mit der Security trennten wir sie von ihrem Mann und baten, dass sie sich in verschiedenen Teilen des Hotels aufhielten. Der Vater nahm den 7-Jährigen, die Mutter den 11-Jährigen und sie gingen getrennte Wege. Die Kinderaugen sprachen Bände und ich dachte einfach nur, was für ein schrecklicher Heilig Abend das doch für die Kleinen ist.

 

Um Zehn Uhr kam der 11-Jährige zu uns an die Concierge-Rezeption, kämpfte mit den Tränen und sagte, dass er weder wüsste wo seine Mama sei noch wo sein Papa und sein Bruder seien. Er meinte, seine Mama hätte ihn verloren, weil sie so betrunken sei und dass er eigentlich am liebsten in das andere Hotel auf sein Zimmer gehen würde. Er fragte, ob wir ihm helfen könnten. Ich bat meine Chefin, dass sie mich gehen ließe, denn ich spürte, dass der arme Kerl einen entsetzlichen Heilig Abend hinter sich hatte und jemanden brauchte, der ihn tröstete und ich wusste, dass meine Chefin ihm das nicht geben würde, sondern ihn nur im Residences absetzen und zur Arbeit zurückkehren würde. Ich war erleichtert als sie sagte, ok fahr du mit ihm rüber. Sie erlaubte mir, so lange bei ihm zu bleiben bis ich jemanden der Eltern gefunden hätte.

 

Ich setzte mich mit ihm in den Golfcar und legte meinen Arm um ihn und spürte, dass er zitterte und sich mit aller Kraft zusammenriss noch nicht loszuweinen. Ich spürte, dass er ganz fest versuchte tapfer zu sein und ich wusste, wenn wir im Zimmer ankommen würden, konnte er seinem Schmerz nachgeben.

 

Als wir im Residences ankamen, empfing mich eine Kollegin in der Lobby und teilte mir mit, dass meine Chefin ihr gerade Bescheid gegeben hatte, dass sie die Mutter in einer Bar in unserem Hotel gefunden hätte und dass sie so betrunken sei, dass sie noch nicht mal gemerkt hätte, dass ihr Sohn weg war bzw. dass sie sich eigentlich nicht mal mehr erinnern könnte, dass sie überhaupt einen Sohn hatte. Von dem Vater und dem kleinen Bruder fehlte aber jede Spur. Wir gingen zum Zimmer, weil er wollte nachschauen, ob sie dort seien, doch das Zimmer war leer und dunkel und er fragte mich, ob wir suchen könnten und so gingen wir in die Restaurants und in die Bar, schauten am Pool, doch weit und breit niemand.

 

Er war so verletzt, dass ihn alle verlassen hatten und ihn ganz offensichtlich seine Eltern nicht mal vermissten oder suchten, er konnte sich kaum noch halten. Mir zerriss es innerlich mein Herz, wenn ich ihn nur ansah. Ich sagte, dass wir jetzt besser aufs Zimmer gehen und dort warten würden und er meinte, ja, lass uns aufs Zimmer gehen. Kaum war die Tür hinter uns ins Schloss gefallen, fing er bitterlich an zu weinen. Ich wusste nicht, da er mich ja eigentlich gar nicht kannte, ob es ihm angenehm sein würde, wenn ich ihn in den Arm nehme. Ich ging daher sehr vorsichtig und zurückhaltend mit ihm um, doch dann drückte er mich so fest, dass ich wusste, dass er gehalten werden wollte und ich hielt ihn so lange in meinen Armen bis er sich ausgeweint hatte und völlig erschöpft war. Er schluchzte so sehr und sagte immer wieder „Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, das ist das schlimmste Weihnachten aller Zeiten.“. Als er sich beruhigt hatte, fragte ich ihn, ob er etwas Süßes möchte, weil ich hoffte, das könnte ihm helfen, nicht mehr so sehr zu zittern. Da meinte er, „Nein nichts Süßes, aber Essen wäre toll.“. Ich fragte ihn, ob seine Eltern denn nicht mit ihm bei unserem Weihnachtsbuffet gewesen seien und er schüttelte den Kopf und meinte, sie hätten den ganzen Tag nur getrunken und er und sein Bruder hätten heute noch nichts gegessen.

 

Ich konnte es kaum glauben. Da müssen sie noch nicht mal irgendwas machen oder vorbereiten, sondern hätten nichts anderes zu tun als in unser Restaurant zu spazieren und zu essen und noch nicht einmal dazu waren diese Eltern in der Lage, sondern ließen ihre Kinder am Heilig Abend hungrig sein. Ich rief sofort den Room Service und bestellte ihm eine warme Mahlzeit und einen Nachtisch. Während wir auf sein Essen warteten, saßen wir auf dem Sofa, ich hielt ihn im Arm und er erzählte mir alles. Dass sein Papa seit drei Jahren Alkoholiker sei und dass er seitdem durch die Hölle ginge. Dass sein Papa früher zu den anonymen Alkoholikern gegangen sei und seit ein paar Monaten nichts getrunken hätte. Dass dann aber vor drei Monaten seine Mama angefangen hätte und jetzt im Urlaub auch wieder sein Papa. Er meinte, dass sie die ganze Woche nur getrunken hätten und dass es der schlimmste Urlaub aller Zeiten sei, sie hätten sich nicht ein einziges Mal mit ihm oder seinem Bruder beschäftigt und er wolle einfach nur noch nach Hause, auch wenn er wüsste, dass dort alles weitergehen würde. Auch wenn sein Papa ihm versprochen hätte, dass er nach dem Urlaub wieder mit dem Trinken aufhören würde…

 

Er erzählte mir, dass er so fertig sei, dass er in der Schule nicht gut aufpassen könnte und dass er deswegen Probleme mit seinen Lehrern hätte. Dies wiederum würde seine Mama so sehr ärgern, dass sie ihm die Schuld an allem gab und sagte, dass er sie so sehr enttäuschen würde, dass sie deshalb trinken müsste. Sein Papa würde ihm auch immer sagen, dass er alles falsch macht, aber er wüsste ja gar nicht wie er alles besser machen soll, weil er doch auch noch auf seinen kleinen Bruder aufpassen und sich um das Essen kümmern müsste, wenn seine Mutter betrunken sei...

 

Auch wenn ich es mit aller Kraft versuchte, die richtigen Sätze zu finden, um ihm vorsichtig klarzumachen, dass seine Eltern krank seien und Hilfe bräuchten und dass er daran keine Schuld hatte und sie kein Recht hatten, ihm die Schuld zu geben, so ist es doch unmöglich, in diesen kleinen Kinderkopf die Botschaft „du bist nicht schuld daran, dass sie trinken“ zu schicken, wenn er doch seit drei Jahren nichts anderes eingetrichtert bekommen hat. Da trägt dieser kleine Mensch schon die ganze Last und Sorge auf seinen Schultern und dann muss er sich auch noch zusätzlich damit auseinandersetzen, dass er die Schuld an allem haben soll? Es war schrecklich traurig neben diesem Häufchen Elend zu sitzen und zu wissen, wenn er morgen abreist, geht für ihn der Wahnsinn erst richtig los, denn sein Papa wird ganz bestimmt nicht nach dem Urlaub einfach wieder aufhören können zu trinken.

 

Als das Essen kam, stürzte er sich förmlich darauf und ich fragte mich wirklich wie lange er nichts mehr bekommen hatte. Und das, obwohl der Familie in beiden Hotels sämtliche Restaurants zur Verfügung standen, da sie all inclusive gebucht hatten. Da ging die Tür auf und der Vater kam mit dem kleinen Bruder herein, er hatte getrunken, aber er war nicht betrunken. Ich grüßte und erklärte, dass ich hier im Zimmer sei, weil ich seinen Sohn hergebracht hatte. Er nickte. Dann fragte der Junge völlig verängstigt und verunsichert, ob das eh ok gewesen sei, dass er uns Mädchen vom Concierge um Hilfe gebeten hatte. Da ich es nicht ertragen hätte, wenn sein Vater ihm jetzt unter Umständen auch noch einen Vorwurf machte, kam ich ihm schlicht zuvor und sagte, „Das war völlig korrekt, genau dafür sind wir da, du hast genau das richtige gemacht.“ und schaute den Vater entschlossen an und wartete seine Reaktion ab. Doch ich glaube, er war dann doch schon zu alkoholisiert, um sich mit mir auseinandersetzen zu wollen und sagte nur zögerlich „Ja, das war ok.“.

 

Der kleine Bruder hatte mittlerweile entdeckt, dass es etwas zu essen gab und bettelte, ob er auch etwas haben dürfte. Ich sagte dem Vater, dass ich das Zimmer jetzt verlassen würde, aber dass ich mir erwarte, dass er über den Room Service etwas bestellt und seinem Kind zu essen gibt. Er nickte. Ich selbst konnte keine weitere Bestellung aufgeben, weil ich dies nur tun kann, solange wir nicht wissen, wo die Eltern sind. Nun aber lag es wieder in seiner Verantwortung. Ich nahm die beiden Jungs in den Arm und der Große flüsterte mit Tränen in den Augen Danke. Ich verließ das Zimmer und als ich im Aufzug stand, war ich diejenige, die zitterte und tief Luft holen musste.

 

Ich kehrte in unser Resort zurück und da es schon nach Elf war, packte ich meine Tasche und spazierte langsam nach Hause. Die frische Luft tat gut. Ich konnte kaum glauben, dass heute Heilig Abend war, denn nichts, aber auch gar nichts, war so gewesen wie sonst. Doch es machte mir nichts aus. Denn ich hatte das Gefühl, dass ich heute genau am richtigen Ort zur richtigen Zeit gewesen war und es vielleicht so hatte sein sollen, dass ich am Abend eingeteilt worden war. Vielleicht war genau das meine Aufgabe dieses Jahr gewesen, dass ich dem kleinen Jungen Halt gegeben hatte, damit er sich ausweinen konnte. Ich weiß nicht, wann er zuletzt umarmt und gestreichelt wurde und wann ihm zuletzt jemand zugehört und ihm gesagt hatte, dass er keine Schuld hat.

 

Ich ging mit dem Gedanken ins Bett, dass es heute wirklich einen Sinn gehabt hatte, dass ich an Heilig Abend arbeiten musste und weit weg von zu Hause war.

 

1. Hotel Neueröffnung
3. Titi's Shrimps
5. Heilig Abend
7. Silvester

2. Adventszeit
4. Sonnenuntergang
6. Erster Weihnachtsfeiertag